O.M.F.O.
Trans Balkan Express
Cat.-No.: AYCD 02
Odessa ist, als größte Hafenstadt am Schwarzen Meer, schon immer ein Melting Pot aller möglichen Nationalitäten gewesen. Offiziell erst 1794 von Katharina der Großen gegründet, gehen die Ursprünge wohl bis in die griechische Antike zurück. Über die Jahrhunderte hinweg haben hier Russen, Rumänen, Griechen, Türken, Georgier und Armenier, Juden, Christen und Muslime, Kaufleute und Kommunisten ihre Spuren hinterlassen. Die Vielvölkermetropole gilt nicht von ungefähr als das Marseille des Ostens.
Von hier stammt unser Mann aus Odessa, kurz O.M.F.O., mit bürgerlichem Namen German Popov. Als Kind hegte er den Wunsch, einmal Astronaut zu werden: Kein überraschender Berufswunsch in einem Land, in dem, neben den unvermeidlichen Lenin-Statuen - überall Kosmomauten-Standbilder errichtet wurden. Noch weniger überraschend, wenn man weiß, dass Popov seinen Vornamen German Titow verdankt, dem zweiten russischen Kosmonauten, der wenige Monate nach Yuri Gagarin ins All startete. Die Sehnsucht danach, die Grenzen der Erdumlaufbahn zu verlassen und in einen Zustand der Schwerelosigkeit zu gleiten, ist German Popov bis heute erhalten geblieben. Doch die Erfüllung fand er nicht im All, sondern in der Musik. In den frühern Achtzigerjahren erfreuten sich die Elektronik-Pioniere wie Kraftwerk, Giorgio Moroder und Jean-Michel Jarre auch in der Sowjetunion großer Popularität. In Odessa, als Hafenstadt ein Umschlagplatz für jede Art von Waren, war es nie schwierig, an die neuesten westlichen Platten zu kommen. So tanzte man auch am Schwarzen Meer auf Schulpartys zu den Klängen von "Wir sind die Roboter". Darüber hinaus besaß German Popov ein Kurzwellenradio, mit dem er Radiosendungen aus dem benachbarten Rumänien empfangen konnte: Sie waren freier in ihrer Programmauswahl, und brachten mehr westliche Musik.
Einen weiteren Kick bekam German Popov aber auch durch die Folklore der Sowjetrepubliken und ihrer Satellitenstaaten, die, über das TV-Programm und den Schulunterricht vermittelt, zum Allgemeingut gehörte. Schon früh begann er, auf dem Schwarzmarkt Platten mit traditionellen Klängen zu kaufen: Sie waren billig zu haben, denn damals interessierte sich noch keiner dafür. Daneben legte sich German Popov ein weiteres ausgefallenes Hobby zu: Er sammelt exotische Musikinstrumente aus aller Welt.
1989, mit der Öffnung der Sowjetunion, siedelte German Popov nach Amsterdam über. Seine umgangreiche Plattensammlung nahm er mit, und erweiterte sie um die europäische Clubmusik der Neunzigerjahre: Um Downtempo, TripHop, Dub und Electronica. Mit der Zeit begann er, selbst Musik zu machen: Mit einer Band, mit der er Gangsterballaden nach Odessa-Art intonierte, spielte er in türkischen Restaurants und auf russischen Hochzeiten. Mit einer anderen Band namens Sputnik, die auf russische Filmmusik der Siebzigerjahre spezialisiert war, machte er sich später innerhalb der russischen Diaspora einen Namen. "Favourite Songs of Soviet Cosmonauts", lautete der Titel ihrer erfolgreichsten CD. Nach dem Auseinandergehen der Band entstand O.M.F.O. als Solo-Projekt.
Man muss sich diesen German Popov als einen Bela Bartok des 21. Jahrhunderts vorstellen. Er reist häufig in Zentralasien umher, wo er Feldaufnahmen macht, von traditionellen Weisen aus der Steppe genau so wie von modernen Restaurant-Bands in Taschkent mit ihrem blechernen Keyboard-Sound. Zwei Mal im Jahr produziert er mit seinen Trouvaillen eine Sendung für das holländische Radio. German Popov faszinieren seit jeher die abseitigen Aspekte der elektronischen Musik: Die ungehörten Klänge, die entstehen, wenn man ein Casio-Keyboard in ein entlegenes Dorf in der sprichwörtlichen Walachei verfrachtet.
Entsprechend klingt "Trans Balkan Express", das von German Popov bis auf wenige Stücke im Alleingang eingespielt wurde: Da entgleist das Titelstück, das zunächst in der Spur des bekannten Kraftwerk-Tracks läuft, auf einmal in einen wilden kaukasischen Kreistanz. Hier wie auf "Gutsul Electro" gibt die Gajda den Ton an, eine Art Dudelsack, wie er auf dem Balkan bei Hochzeiten erklingt. "Dolia" wiederum baut auf einem moldawischen Schlager auf, den jeder in der Region kennt. "Tixi Rock" wurde inspiriert durch ein Volkslied aus der Republik Jakutien, und durch einen Onkel von German Popov, der als Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff im Schwarzen Meer arbeitete, bis er Ende der Siebzigerjahre nach Tixi abkommandiert wurde, einem Hafen in Nordsibirien, um dort Direktor der arktischen Schifffahrtsgesellschaft am Nordpolarmeer zu werden. "Er schickte uns Briefe und sehr seltsame Fotos von dort", erinnert sich German Popov.
Zu hören sind ferner: Die Drimba, eine Maultrommel
aus den Karpaten, ein Instrument der Schäfer im
rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet. Eine Domra, eine russische
Langhalslaute. Sowie ein Akkordeon, das einigen Stücken einen
bulgarischen Touch verleiht (Chupino, Money Boney, Chachak). So sind
die meisten Melodien auf "Trans Balkan Express" fest in den Traditionen
der Region verwurzelt. Elektronisch verfremdet, entfalten sie jedoch
ein Eigenleben: Futurismus meets Folklore Imaginaire. Und auch wenn
unklar bleibt, ob es sich beim "Trans Balkan Express" nun eher um einen
Zug oder um eine Raumkapsel handelt: Man dringt damit in Gebiete vor,
in die sich noch kein menschliches Ohr bislang gewagt hat.
Ladies and Gentlemen: We are floating in eastern european space.
Daniel Bax
BIOGRAFIE OMFO
OMFO ist German Popovs Künstlername. Er wurde 1966 in der Hafenstadt Odessa in der UdSSR geboren. Als Heranwachsender im größten Land der Welt prasselte die Gehirnwäschenpropaganda auf ihn ein und er durchlebte den real existierenden Sozialismus von oben bis unten, bis das alles sein Ende fand. Als er die schmerzlichen Erfahrungen der Perestroika nicht mehr ertrug, zog er gen Westen. Er landete im multikulturellen Amsterdam - in einer Stadt, deren Einwohnern man eine laxe Einstellung gegenüber Cannabiskonsum und frivolem Verhalten nachsagt. Dort entdeckte G. Popov das umfassende kulturelle Erbe der Vergangenheit. Utopische Ideologien, die Moral und der kulturelle Verfall der Ära Breschnew, der Pathos der Eroberung des Weltalls und ethnische Diversität: All dies versetzte ihn in die Lage, OMFO zu werden.
G. Popovs musikalische Laufbahn begann damit, dass er zusammen mit Alex Kopyt in teuren Restaurants und Flüchtlingsunterschlupfen Gangster-Balladen und Gefängniserzählungen vortrug. Unter dem Namen The Children of Lieutenant Schmidt zogen sie Weltmusik-Fans das Geld aus der Tasche. Nach einer Weile wurde das Ganze unerträglich und G. Popov begann, sich für das Weltall und Kosmonauten zu interessieren. Zusammen mit anderen sowjetischen Auswanderern gründete er eine Band namens Sputnik. Bald wurde Sputnik von Fans elektronischer Extravaganz entdeckt; kurz darauf veröffentlichten sie ihr Album „The Favorite Songs of Soviet Cosmonauts". Während die Band in glamourösen Clubs und auf Privatpartys herumpiepste, schlug G. Popov einen neuen musikalischen Weg ein - Folklore. Während einem seiner Soloauftritte wurde er von dem Produzenten eines großen, niederländischen New-Age-Labels angesprochen. Der bot ihm an, in seinem Studio aufzunehmen. Kurz darauf veröffentlichte Oreade Music das Album unter dem mysteriösen Namen Isiric. Zu G. Popovs Überraschung wies das Label sein Werk als „Weltheilungsmusik" aus. Entgegen dieser Kategorisierung inspiriert das Album sogar heute noch junge Intellektuelle in der gesamten früheren UdSSR dazu, mit psychedelischen Substanzen herumzuexperimentieren. Das Geheimnis seines Erfolgs steckt in den russischen Texten und den exotischen sibirischen und zentralasiatischen Melodien, gespielt auf entlegenem Instrumentarium, gesungen mit ungewöhnlichen Vokaltechniken. Wahrscheinlich entdeckte G. Popov dabei, dass ethnische Weisheiten und Elektronik als wahre Folklore des 21. Jahrhunderts untrennbar miteinander verbunden sind.
Dann packten die Neunziger allmählich ihre Siebensachen. OFMO konzentrierte sich auf sein Soloprojekt Our Man from Odessa und arbeitete er mit mehreren Elektro-Labels zusammen. Das kleine niederländische Label Kidnap, das von Mitgliedern der früheren sowjetischen Diaspora gegründet und geleitet wird, brachte die meisten seiner frühen Alben heraus. Während dieser Zeit kollaborierte er auch mit einer kontroversen Diva aus der abgelegenen sibirischen Republik Tuva: Mit Sainkho Namchilak bereiste er die Welt und trat in großen internationalen Konzertsälen auf. Zur Jahrtausendwende erschufen G. Popov und seine Freunde eine neue Plattform für ihre futuristischen Sound- und Musikvisionen: Solaris entstand. Inspiriert vom russischen Konstruktivismus und utopischer Romantik war dieses Projekt nicht einfach Plattenlabel, sondern Kunstlabor. Das glamouröse Alias Our Man from Odessa verkürzt sich zum enigmatischeren OMFO. Während dieser Zeit knüpft OMFO Kontakte mit Projekten und Künstlern wie Metamatics, Aavikoo, Jimpster, CiM und Felix Kubin, die sich allesamt auf Solaris-Veröffentlichungen wie Aelita, Cheap Electric Paradise und Omnipresence. Dank ihres unfehlbaren Designs führen Musikvertriebe wie Plattenläden diese Alben immer noch als Sammlerstücke. Dann kontaktierte ihn Vladimir Lomberg - jemand, der genauso denkt wie OMFO und bei Solaris und Kidnap hinter den Kulissen wirkt. Er brachte OFMO in Kontakt mit Essay Recordings - einem Plattenlabel, das unter anderem das versteckte Potential osteuropäischer Musik ergründet. OMFO begann die Zusammenarbeit mit dem erfolgreichen Remix eines Tracks, der von Shantel - dem ersten, der Musik aus dem Balkan mit elektronischen Beats mixte - geschrieben worden war. Nachdem der Remix auf dem legendären Bucovina-Club-Album erschienen war, beauftragte Essay OFMO mit einem neuen Album. Etwas Neues musste her: OMFO setzte den Trans Balkan Express auf die Schienen.
Kurz nach Veröffentlichung wurde das Album in ganz Europa - und darüber hinaus - bekannt; Hits wurden im Radio gespielt, die Massenmedien berichteten. OFMO wuchs indes schon bald aus dem Genre heraus. Die eigenartige und irgendwie humorvolle Vision eines karpathischen Dorfbewohners, der auf einem analogen Synthesizer einheimische Melodien spielt, machte OMFOs Musik für Leute jeder Kaste, jeden Berufs und jeden religiösen Glaubens zugänglich und verständlich. Allein diese Qualität ist der Grund dafür, dass Kriminelle, Schafhirten, Astronomen sowie Taxifahrer und sogar Terroristen zu seinen Zuhörern zählen. Gerade wegen seiner Einfachheit bezeichneten viele Musikkritiker Trans Balkan Express als innovativ. Die Songs auf Trans Balkan Express wurden anderen Labels lizenziert und auf verschiedenen Compilations veröffentlicht. Das Album erregte auch die Aufmerksamkeit des berühmten Komikers Sasha Baron Cohen, besser bekannt als Ali G. Zwei Tracks von Trans Balkan Express werden bald in dem neuen 20th-Century-Fox-Kinofilm „Borats Guide to America", auftauchen.
Im Frühjahr 2006 lernte G. Popov Uwe Schmidt - auch bekannt unter seinen Künstlernamen Atom™ oder Señor Coconut - höchstpersönlich kennen. Der Soundzauberer ließ sich dazu überreden, bei der Produktion von OMFOs neuem Album mitzuwirken. Getrennt durch den Atlantik, wiewohl verbunden durch ein gemeinsames Ziel, tauschten sie Midi- und Audio-Files aus, frickelten an Sounds herum und testeten die Grenzen ihrer Soft- und Hardware aus. Es dauerte einen Monat, und das Album war fertig. Das Projekt We are the Shepherds wurde zur logischen Weiterführung des Vorgängers Trans Balkan Express. Die ironischen Kraftwerk-Referenzen beider Titel sollten das elektronische Musikkonzept unterstreichen.
Um seine Projekte der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, stellte OMFO aus fünf außergewöhnlichen Leuten eine Band zusammen. Zur Band gehören das transsilvanische Wunderkind Vasil Nedea an Hackbrett und Akkordeon sowie der aserbaidschanischen Science-Fiction-Schreiber und Virtuose Rassul Kazimov an Târ (ein ohne Plektrum gespieltes Saiteninstrument) und E-Gitarre. Der Freiheitskämpfer und Geschichtenerzähler Bakhtiyar Eybaliyev, Sänger und Percussionist der Band, wird oft mich einer Nachtigall verglichen. Ebenso oft singt auch Fay Lovsky, die „Lady aus dem Jenseits". Sie spielt äußerst seltene Instrumente wie das Theremin und die singende Säge - was der Musik eine unheimliche und mysteriöse Stimmung gibt. Sie alle wirkten an den Aufnahmen von We are the Shepherds mit.
Das Spektrum vom OMFOs Werken breit gefächert. Er produziert Soundtracks für Erwachsenenvideos und komponiert Jingles für turkmenische Radiostationen. Für die Biennale in Venedig schrieb er den Soundtrack für den ersten zentralasiatischen Pavillon. OMFO spielt mit seiner Band, macht Solo-Shows, performed als Soundkünstler und sammelt Alltagsgeräusche. Eine seiner ganz aktuellen Wege Musik zu nutzen ist die Schöpfung „musikalischer Horoskope". Um seine musikalischen Ideen auch live perfekt umzusetzen und europäische Stereotypen einer Bühnenperformance zu durchbrechen, ist er auf der Suche nach den richtigen Locations: So spielt er eher in Kunstgalerien, Kinos, Theater, Planetarien und botanische Gärten als in Clubs.